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#spanishrevolution

… ein Twitter-Hashtag, bei dem Anarchisten wohl aus historischen Gründen hellhörig werden. Was passiert da gerade in Spanien? Bisher weitgehend ignoriert von den Massenmedien scheint sich eine Protestbewegung zu formieren, die bereits zu Vergleichen mit den Aufständen im "arabischen Frühling" einlädt. Um mit dieser Analogie weiterzumachen, könnte man sagen, dass die Bewegung den zentralen Platz der Hauptstadt Madrid zu ihrem Tahir-Platz gemacht hat - 2000 Menschen verbrachten dort die Nacht auf den Mittwoch, um sich einer Räumung entgegenzustellen.

Was für eine Revolution ist gemeint? Ich kann nur beginnen, mir Anhand von Fundstücken ein Bild zu machen. Die Parole ist "democracia real ya", echte Demokratie jetzt - ein Ausdruck der Frustration über das etablierte Zweiparteiensystem, in dem die regierenden "Sozialisten" der PSOE und die oppositionelle rechtskonservative PP die Macht unter sich aufteilen. Der Protest richtet sich gegen Sozialkürzungen und Privatisierung, Arbeitslosigkeit, und die Entfremdung der politischen Klasse von der Bevölkerung (immer wieder werden finanzielle und rechtliche Privilegien von Politikern und Funktionären mit der prekären Situation vieler Arbeiter kontrastiert). Im Vordergrund steht auch die Kritik an der Sozialisierung der Krisenkosten: Derselbe Staat, der es erlaubte und ermöglichte, systemische Risiken zu ignorieren und damit hohe Profite zu machen, hat nun die Kosten für den Beinahe-Kollaps an die Allgemeinheit weitergegeben.

Wie heterogen eine solche Protestbewegung sein kann, führen uns die Aufstände in der arabischen Welt vor Augen - dort wurden westlich orientierte Liberale ebenso wie religiöse Konservative und vereinzelte Linksradikale aktiv. Es ist schwierig, in solchen Massenprotesten eine verbindliche Linie auszumachen. Anhaltspunkte liefert jedoch ein Manifest aus der Bewegung (hier in der englischen und deutschen Übersetzung). Ein Ausschnitt daraus:

"Einige von uns bezeichnen sich als fortschrittlich, andere als konservativ. Manche von uns sind gläubig, andere wiederum nicht. Einige von uns folgen klar definierten Ideologien, manche unter uns sind unpolitisch, aber wir sind alle besorgt und wütend angesichts der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektive, die sich uns um uns herum präsentiert: die Korruption unter Politikern, Geschäftsleuten und Bankern macht uns hilf- als auch sprachlos. […] Gleichheit, Fortschritt, Solidarität, kulturelle Freiheit, Nachhaltigkeit und Entwicklung, sowie das Wohl und Glück der Menschen müssen als Prioritäten einer jeden modernen Gesellschaft gelten. [...] Politiker sollten unsere Stimmen in die Institutionen bringen, die politische Teilhabe von Bürgern mit Hilfe direkter Kommunikationskanäle erleichtern, um der gesamten Gesellschaft den größten Nutzen zu erbringen, sie sollten sich nicht auf unsere Kosten bereichern und deswegen vorankommen, sie sollten sich nicht nur um die Herrschaft der Wirtschaftsgroßmächte kümmern und diese durch ein Zweiparteiensystem erhalten […] Ziel und Absicht des derzeitigen Systems sind die Anhäufung von Geld, ohne dabei auf Wirtschaftlichkeit oder den Wohlstand der Gesellschaft zu achten. Ressourcen werden verschwendet, der Planet wird zerstört und Arbeitslosigkeit sowie Unzufriedenheit unter den Verbrauchern entsteht. Die Bürger bilden das Getriebe dieser Maschinerie, welche nur dazu entwickelt wurde, um einer Minderheit zu Reichtum zu verhelfen, die sich nicht um unsere Bedürfnisse kümmert."

Ohne sich auf konkrete soziale Theorien oder Gegenentwürfe zu beziehen, lässt das Manifest kapitalismuskritische Töne anklingen und einen egalitären Anspruch erkennen. Auch wenn sie hartgesottenen Linken vielleicht etwas, sagen wir, volkstümlich vorkommt, die Forderung, "das Geld" nicht mehr "über Menschen", sondern "es wieder in unsere Dienste [zu] stellen". Hier mag vielleicht folgende Aussage versöhnen, die wir auf einem Plakat finden: "Gewalt ist, 600 Euro im Monat zu verdienen". Gewalt, nicht etwa "kein fairer Lohn", nicht etwa "soziale Ungerechtigkeit". Interessant, dass nicht allein die Frage der Fairness oder Verteilungsgerechtigkeit aufgeworfen, sondern auch ein Begriff von ökonomischer Gewalt, sozusagen Nötigung und Freiheitsberaubung mit wirtschaftlichen Mitteln, gebildet wird. Eine gewisse Wendung im Diskurs, die von der libertären Linken begrüßt werden sollte.

Plakat der BewegungDort, wo die Bewegung bei ihren Forderungen nicht über die Kritik an Korruption und den Wunsch nach besseren Repräsentanten hinausgeht, ist meine instinktive Reaktion, sie von einem libertären Standpunkt aus kritisch zu beäugen. Handelt es sich etwa auch in Spanien um den vielbeschworenen "Wutbürger"? Der "Wutbürger" rebelliert gegen das gebrochene Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, doch sein Ziel scheint nicht die Auflösung des Verhältnisses zu sein, in dem solche Brüche zu erwarten sind, sondern seine Erneuerung: Er fordert das Versprechen der Regierenden, in Zukunft ganz bestimmt treu zu sein. Wirklich progressiv ist heutzutage nicht der Ruf nach einer weniger einheitlichen, weniger korrupten Parteienlandschaft, sondern der Aufbau von Strukturen, die nicht auf der Logik der Repräsentation basieren, und dennoch (oder gerade deshalb) soziale Teilhabe ermöglichen. Man darf gespannt sein, wie laut die Parole "Que se vayan tod@s" noch wird.

Die Höhe der Wellen, die diese neue Protestbewegung schlagen wird, lässt sich noch nicht absehen. Sollte der beliebte Vergleich mit den arabischen Aufständen gerechtfertigt sein (und darüber bin ich mir nicht sicher), sollte die Bewegung es gar schaffen, etablierte machtpolitische Strukturen ins Wanken zu bringen, dann wird es interessant: Wie wird man es hierzulande erklären, dass der Kontrollverlust nicht Halt macht an der angeblichen Trennlinie zwischen "autoritären Regimen" und "demokratischen Staaten"? Möglich, dass mehr Menschen diese Trennlinie als eine im Grunde willkürliche Grenze auf einem breiten Kontinuum zwischen autoritären und libertären Gesellschaftsentwürfen erkennen - und damit die Notwendigkeit, kontinuierlich für mehr Freiheiten zu kämpfen. Möglich, dass in Spanien gerade ein Schritt in die richtige Richtung gewagt wird.

 

Weiterführende Links:

  • Telepolis: ¡Indignaos! Indignez vous! Empört euch!
  • taz: Jugendrevolte in Spanien

Kommentare

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http://www.heise.de/tp/blogs/8/149915

Nach Angaben von Augenzeugen sind die Polizisten regelrecht vor der immer größer werdenden Masse geflüchtet, die sich aus Protest gegen die Räumung zum Platz begeben hat. "Die Antwort der Bevölkerung war unglaublich", erklärte einer der Geräumten. Er teilt Telepolis mit, dass das Camp wieder aufgebaut wird, denn die gesamte Infrastruktur wurde den Protestierenden genommen. Sie verfügen nun weder über Zelte, noch über Computer oder Spruchbänder.

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Videobericht: http://www.youtube.com/watch?v=KcHK9yfRoSA

Dass tagesschau.de und heute.de zu diesem Thema soweit ich das sehe bisher NICHTS gebracht haben, liegt natürlich nur daran, dass die wirklich schwer unterfinanziert sind. Da seht ihr wo das hinführt, wenn ihr alle keine Rundfunkgebühren zahlt.