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Chomskys augustinischer Anarchismus

Noam Chomsky ist vielleicht der bekannteste Anarchist der Vereinigten Staaten. Darin liegt jedoch eine gewisse Ironie; denn so wie der Heilige Augustinus einst betete, "Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, aber jetzt noch nicht", so ist Chomskys Ziel letztendlich Anarchie, aber jetzt noch nicht.

Chomskys Grund für das "noch nicht" ist, dass eine starke zentrale Regierung aktuell als Bollwerk gegen die Konzernelite notwendig ist; es wäre daher nicht ungefährlich den Staat abzuschaffen oder nur zu verkleinern, solange wir nicht zunächst den Staat benutzen, um die Macht der Konzernelite zu brechen:

Langfristig denke ich, dass zentralisierte politische Macht eliminiert, aufgelöst und schließlich auf lokale Ebene verlagert werden sollte, mit Föderalismus, freien Assoziationen und so weiter. Andererseits würde ich gerade jetzt die [amerikanische] Bundesregierung stärken. Der Grund ist, dass wir in dieser Welt leben, nicht in irgendeiner anderen. Und in dieser Welt gibt es enorme Konzentrationen privater Macht, die so tyrannisch und totalitär sind wie es Menschen je erdacht haben.

Es gibt nur eine Möglichkeit die gewonnenen Rechte zu verteidigen, oder ihre Reichweite angesichts dieser privaten Mächte zu erweitern, nämlich eine Form illegitimer Macht aufrechtzuerhalten, welche von der Öffentlichkeit einigermaßen zur Verantwortung gezogen und tatsächlich beeinflusst werden kann.

[You Say You Want a Devolution]

Chomskys Auffassung des Staates als unentbehrliches Bollwerk gegen "Konzentrationen privater Macht" mag zunächst verwirrend erscheinen, in Anbetracht der Tatsache, dass der Staat - wie Chomskys eigene Recherche immer wieder bestätigt hat - historisch gesehen solche Konzentrationen maßgeblich ermöglicht hat. Doch was Chomsky zu meinen scheint ist nicht, dass der Staat jetzt generell als Bollwerk agiert, sondern dass er dazu gebracht werden kann dies zu tun. Wenn du einem viel stärkeren Gegner (privater Macht) gegenüberstehst, der ebenfalls ein Schwert (staatliche Macht) hat, tust du besser daran das Schwert zu ergreifen und es gegen ihn zu verwenden, statt das Schwert einfach zu zerstören.

Der Staat ist keinesfalls gutartig - das ist wahr. Andererseits ist er zumindest teilweise rechenschaftspflichtig, und er kann so gutartig werden, wie wir ihn machen. Was nicht gutartig ist (sondern tatsächlich extrem schädlich), ist etwas, was du nicht erwähntest - unternehmerische Macht, die hochgradig konzentriert ist, und mittlerweile transnational. Unternehmensmacht ist bei weitem nicht gutartig und uns keinerlei Rechenschaft schuldig. Sie stellt ein totalitäres System dar, mit enormen Auswirkungen auf unser Leben. Sie ist ebenfalls der Hauptgrund dafür, dass der Staat nicht gutartig ist.

[On Gun Control]

Es gibt hier zwei Annahmen, an denen ich Anstoß nehmen möchte.

Erstens nimmt Chomsky an, der Einfluss privater Unternehmen auf den Staat sei "der Hauptgrund dafür, dass der Staat nicht gutartig ist." Warum in aller Welt glaubt er das? Ein Machtmonopol lädt zu Missbrauch ein, egal ob die Lenker dieser Macht sich hautpsächlich innerhalb oder außerhalb des Staatsapparates befinden. Wenn Chomsky glaubt, dass der Staat so harmlos wäre, wenn nicht böse Kapitalisten die Fäden in der Hand hielten, warum möchte er ihn langfristig überhaupt abschaffen?

Zweitens nimmt Chomsky an, dass die Macht des Staates "teilweise rechenschaftspflichtig" ist, während die der Konzerne uns "keinerlei Rechenschaft schuldig" ist. Zunächst bin ich mir nicht sicher, ob die Verantwortlichkeit der Staatsmacht hier mit der der real existierenden, vom Staat ermöglichten Unternehmensmacht kontrastiert wird, oder stattdessen mit der Verantwortlichkeit von Unternehmen, wie diese ohne staatliche Hilfe wäre. Wenn es aber ersteres ist, dann würde der Kontrast, selbst wenn korrekt, keinen Grund liefern sich der Abschaffung des Staates entgegenzustellen; dass X + Y gefährlicher ist als X allein ist kein guter Grund um X zu verteidigen. Der Kontrast ist für eine Verteidigung des Staates nur dann relevant, wenn Unternehmen ohne staatliche Unterstützung immer noch weniger rechenschaftspflichtig wären als der Staat. Und hier scheint es offensichtlich, dass der Staat - selbst ein demokratischer Staat - weit weniger rechenschaftspflichtig ist als echte private Unternehmen.

Schließlich kann ein Unternehmen deine Arbeit und/oder deinen Besitz nur dann bekommen, wenn du einwilligst sie abzugeben, während eine Regierung diese mit Gewalt entnehmen kann. Natürlich kannst du versuchen deine aktuellen Repräsentanten abzuwählen, doch nur in mehrjährigen Intervallen, und nur wenn du 51% deiner Nachbarn überzeugst dasselbe zu tun; stattdessen kannst du deine Beziehung zu einem Unternehmen jederzeit abbrechen, und ohne andere dazu zu bewegen sich anzuschließen. Außerdem bietet ein Kandidat ein Paket an politischen Positionen an, während ich bei privaten Unternehmen z.B. das Gemüse von Laden A und das Fleisch von Laden B auswählen kann.

David Friedman macht den Kontrast deutlich:

Wenn ein Konsument ein Produkt auf dem Markt kauft, kann er verschiedene Marken vergleichen. ... Wenn man einen Politiker wählt, kauft man nichts als Versprechen. ...

Ein Konsument hat nicht nur bessere Informationen als ein Wähler, er kann sie besser nutzen. Wenn ich mich mit verschiedenen Automarken befasse ... entscheide, welche am besten für mich ist, und sie kaufe, bekomme ich sie. Wenn ich mich mit verschiedenen Politikern befasse und entsprechend wähle, bekomme ich was die Mehrheit wählt. ...

Man stelle sich vor, wir würden Autos so kaufen, wie wir Regierungen kaufen. Zehntausend Menschen würden zusammenkommen und sich zur Wahl entscheiden, jeder für das Auto, was er bevorzugt. Welches Auto auch immer gewinnt, jeder der zehntausend müsste es kaufen. Es würde sich für keinen von uns lohnen sich ernsthaft anzustrengen, um herauszufinden welches Auto das beste ist; wie auch immmer ich mich entscheide, mein Auto wird von den anderen Mitgliedern der Gruppe für mich ausgesucht. ... Dies ist die Art und Weise, wie ich Produkte auf dem politischen Marktplatz kaufen muss. Nicht nur, dass ich die verschiedenen Produkte nicht vergleichen kann, es wäre mir die Zeit nicht wert, selbst wenn ich es könnte.


Die "Verantwortlichkeit" demokratischer Regierungen scheint lachhaft verglichen mit der des Marktes. Die Hauptfunktion der Wahlurne scheint mir zu sein, die Bevölkerung leichter lenkbar zu machen, indem man sie davon überzeugt, dass sie irgendwie am Ruder sei.

Nichts davon sollte für Chomsky neu sein, der schließlich selber darauf hinwies:

So wie die Dinge nun stehen ist der Prozess der Wahl etwas, was der Bevölkerung hin und wieder erlaubt zwischen nahezu identischen Repräsentanten der Unternehmensmacht zu wählen. Das ist besser als einen Diktator zu haben, doch es ist eine sehr beschränkte Form von Demokratie. Ein Großteil der Bevölkerung merkt das und nimmt nicht einmal Teil. ... Und natürlich werden Wahlen fast vollständig gekauft. Bei den letzten Kongresswahlen gaben 95% der Wahlsieger mehr Geld [für Wahlkampf] aus als ihre Gegner, und die Wahlkämpfe wurden überwiegend von Konzernen finanziert.

[Chomsky's Other Revolution]

Nun, ja, genau. Was ist also die Basis für Chomskys Glauben an den demokratischen Staat?

Chomsky mag einwenden, dass meine Verteidigung der Verantwortlichkeit des Marktes die Tatsache ignoriert, dass sie die Abstimmung mit Dollars beinhaltet, sodass die Reichen mehr Stimmen als die Armen besitzen - während in einem demokratischen Staat alle gleich viele Stimmen haben. Doch selbst wenn wir die kausale Abhängigkeit existierender Wohlstandsgefälle von systematischer Intervention des Staates beiseite lassen - ebenso wie die Tatsache, dass die Regierung die Macht der Wohlhabenden vergrößert, indem sie Resourcen dirigiert, die ihr nicht gehören - bleibt es immer noch so, dass wie wenige Dollars man auch immer haben mag, man für die Abstimmung mit diesen etwas zurückbekommt, während man für seine Wahlstimme nichts Gewolltes bekommt, es sei denn man wählt zufällig so wie die Mehrheit. Was ist weniger demokratisch: Ein System, in dem die Wirkung der eigenen Stimme von den eigenen Resourcen abhängt, oder eines, in dem 49% der Bevölkerung effektiv keine Stimme hat?

Chomsky ist sich sehr wohl bewusst, dass das, was er "Unternehmensmacht" nennt, maßgeblich von staatlicher Intervention abhängt - da er wie kein anderer dazu beigetragen hat diesen Zusammenhang zu dokumentieren. Wie er anmerkt:

Jede Form von konzentrierter Macht, was auch immer diese ist, wird sich nicht direkter demokratischer Kontrolle unterwerfen wollen, ebenso wenig der Disziplin des Marktes. Machtvolle Teile der Gesellschaft, darunter der Reichtum der Konzerne, sind natürlich gegen funktionierende Demokratie, ebenso wie gegen funktionierende Märkte, für sich selbst zumindest.

[Reflections on Democracy]

Wenn also die Konzernelite so viel Angst vor dem freien Markt hat, warum zögert Chomsky so, sie dort hineinzuschleudern?

Vielleicht ist Chomsky der Ansicht, dass zwar der Staat notwendig ist, um diese Konzentrationen privater Macht zu schaffen, nicht aber um sie aufrechtzuerhalten, sodass die Abschaffung des Staates an diesem Punkt die Macht der Konzerne intakt lassen würde. Das ist keine verrückte Ansicht, aber sie benötigt Argumente. Schließlich ist systematische staatliche Intervention im Sinne der großen Unternehmen nicht bloß etwas, was damals im Gilded Age oder der Progressive Era oder zu Zeiten des New Deal stattfand; sie geht weiter, massiv und ununterbrochen. Ich würde nicht behaupten (tatsächlich habe ich es verneint), dass private Macht einzig und allein auf die Unterstützung durch den Staat zurückzuführen ist; aber es ist schwer zu glauben, dass all die staatliche Unterstützung schlicht überflüssig ist. Was der Fall sein müsste, wenn das Wegfallen staatlicher Unterstützung die Unternehmensmacht nicht merklich schwächen würde.

Chomsky sagte (in Answers to Eight Questions on Anarchism), dass er zwar "in einer ganzen Reihe von Fragen mit Leuten, die sich als Anarchokapitalisten bezeichnen, wesentliche Übereinstimmungen" habe, und ebenfalls "ihr Bekenntnis zur Rationalität bewunder[e]", nichtsdestoweniger aber die Marktversion des Anarchismus als "doktrinäres System" betrachte, "das, falls je umgesetzt, zu Formen der Tyrannei und Unterdrückung führen würde, die in der Menschheitsgeschichte wenige Entsprechungen haben". Warum? Weil "die Idee eines 'freien Vertrages' zwischen dem Potentaten und seinem hungernden Untergebenen ein kranker Witz ist".

Doch dieses Argument wirft offenkundige Fragen auf. Chomsky setzt genau den Punkt voraus, der zur Diskussion steht - nämlich dass sich, ohne staatliche Intervention im Interesse der Reichen, die Wirtschaft sich in "Potentaten" und "hungernde Untergebene" aufspalten würde. Nun ist es wahr, dass Marktanarchisten 1 selber manchmal - fälschlicherweise, wie ich denke - ihre ideale Ökonomie als der Verteilung von Wohlstand und Arbeitsrollen in der jetzigen Wirtschaft sehr ähnlich beschrieben haben, nur ohne den Staat. Aber warum sollte Chomsky sie beim Wort nehmen? Wenn der Staat tatsächlich massiv und systematisch im Interesse des "Potentaten" und gegen den "hungernden Untergebenen" interveniert - wie Chomsky zugeben muss, denn seine Recherche zeigt ausdrücklich eben das - warum in aller Welt würde er erwarten, dass dieses Machtgefälle unverändert bleibt, sobald die Intervention aufhört?

Chomsky unterschätzt nicht nur die Resourcen der Anarchie, sondern scheint auch die Dienstbarkeit des Staates zu überschätzen. Er schreibt als ob  der Staat, obwohl er gerade eine Menge Schlechtes tut, gänzlich anders sein könnte, wenn nur mehr Menschen richtig wählen würden. Nun ist es wahr, dass Wählen beeinflussen kann, wie schlecht die Regierung ist. (Wenn genügend Deutsche 1932 anders gewählt hätten, hätten sie ein weniger furchtbares Regime  bekommen können.) Dennoch, was letzten Endes falsch ist an einem Zwangsmonopol, ist nicht, dass die falschen Leute es betreiben, sondern dass solch ein Monopol anreiz- und informationsbezogene Perversitäten mit sich bringt, die sich nicht vermeiden lassen. Außer indem man die Quelle des Problems entfernt, das Monopol, woraufhin man nicht länger einen Staat hat.

  • 1. aus Gründen, die ich anderswo erklärt habe, möchte ich den Begriff "anarcho-kapitalistisch" lieber vermeiden

Kommentare

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"Wenn der Staat tatsächlich massiv und systematisch im Interesse des "Potentaten" und gegen den "hungernden Untergebenen" interveniert - wie Chomsky zugeben muss, denn seine Recherche zeigt ausdrücklich eben das - warum in aller Welt würde er erwarten, dass dieses Machtgefälle unverändert bleibt, sobald die Intervention aufhört?"
Diese Frage kann ich beantworten:
1. Erfolgt diese Macht aus Organisationen bzw. der speziellen Organisationsformen von Firmen und Konzernen. Diese Organisationsform verschwindet aber nicht durch eine bloße Abschaffunge des Staates.
2. Wird hier viel zu strikt zwischen staatlicher und der Macht anderer Organisationen getrennt. Sie sind in ihrem Wesen nicht so verschieden, wie es in diesem Text erscheint. Den Staat abzuschaffen wäre nicht wesentlich anders davon eine oder mehrere große und umfassende Firmen abzuschaffen. (Wo wir schon bei Augustinus sind, dieser schrieb, der Staat sei nur eine eingesessene Räuberbande, Konzernstrukturen sind nicht viel anders)
3. Es ensteht bereits ein bedeutendes Machtgefälle durch den Symbolcode des bürgerlichen Eigentums, dies liegt in seiner binären Natur: Haben oder nicht haben, es gibt nichts dazwischen. (Stirner versucht sich an einer Konzeption von Eigentum, welches nicht in einem derart binären Schema zu fassen ist, und ist damit den so genannten "Marktanarchist_innen" Meilen vorraus.)

Ich finde einige der Kritikpunkt an Chomskys "Anarchismus" denkenswert, aber die Richtung in die sie abzielen ist für mich nicht einmal ansatzweise emanzipatorisch.

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Das kommentiere ich vielleicht ein andermal, aber zu Stirner, den du ja öfter lobst, und den ich nicht so gut kenne, habe ich eine Frage: Ich sehe Stirner bisher nur als individualistischen Provokateur, der dagegen rebelliert, dass das Individuum ständig von irgendeinem Kollektiv, irgendeinem Moralsystem usw vereinnahmt und ihm untergeordnet wir. Seine Vorstellung von Eigentum ist bei mir so in Erinnerung geblieben: "Alles, was du dir aus eigener Kraft nimmst, gehört dir. Alles, was dir ein anderer aus eigener Kraft nimmt, gehört dem anderen." Irgendwie nicht die Antwort, die ich suche. Eigentum verstehe ich als gesellschaftlich anerkannte Unterscheidung zwischen "mein" und "dein". (Ich denke, individuelles Eigentum ist zu einem gewissen Grad prinzipiell legitim und freiheitlich, nur nicht in der aktuellen kapitalistischen Form). Beim Eigentum gibt es also einen groben sozialen Konsens darüber, was ich legitimerweise als "mein" beanspruchen kann und was nicht. Und wenn jemand etwas nimmt, was ich als mein Eigentum beanspruche, dann sollte es doch gesellschaftliche Instanzen geben um den Konflikt zu klären. Bei Stirner gibt es das nicht, oder? Wenn es keinen Konsens in Sachen Eigentum gibt, habe ich aber ständige Unsicherheit. Wenn ich mein Eigentum immer nur allein verteidigen muss, bietet es mir keinen zusätzlichen Schutzraum. Es hängt dann allein von meiner Stärke ab, ich kann keinerlei Rechte oder moralische Regeln geltend machen. Habe ich Stirner überhaupt richtig verstanden?

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"Ich sehe Stirner bisher nur als individualistischen Provokateur, der dagegen rebelliert, dass das Individuum ständig von irgendeinem Kollektiv, irgendeinem Moralsystem usw vereinnahmt und ihm untergeordnet wir."

Das ist teilweise richtig, aber in ganz bestimmten Punkt nicht:
1.) Stirner rebelliert nicht dagegen, dass wir in Kollektiven manche von unseren Interessen aufgeben müssen. Das ist ein häufiges Misverständnis, doch es verhält sich ganz anders. Stirner schreibt explizit, dass das Individuum IMMER einen Teil seiner Freiheit für den sozialen Verkehr, wie er es nennt, aufgeben muss, und das ist für in vollkommen in Ordnung! Was er nicht aufgeben will ist seine Eigenheit, was ich als eine Form der geistigen Unabhängigkeit deuten würde.
2.) Stirner lehnt den Begriff des Rechtes ab, weil, wie er meint, das Recht immer etwas ist was über dem Einzelnen steht. Soweit so gut. Er lehnt jedoch damit nicht alle Arten von moralischen Begriffen ab, über die (Nächsten-)Liebe zum Beispiel schreibt er, dass er die ganze Welt liebt und wenige Seiten später, dass er dies nicht tue. Worum es ihm also geht ist Selbstkontrolle, Selbstbestimmung. Moralische Begriffe sind für ihn nicht per se verwerflich, solange sie sich in der Kontrolle des Einzelnen befinden.

"Eigentum verstehe ich als gesellschaftlich anerkannte Unterscheidung zwischen "mein" und "dein"."
Diese Art von Eigentum wirst du bei Stirner nicht finden. Das Eigentum von Stirner ist immer nur jenes was sich in der Gewalt des Einzelnen befindet. Es ist nicht nur so, dass du dein Eigentum ständig gegen andere verteidigen musst, es ist sogar so, dass es nur dein Eigentum ist, solange du dich aktiv darum bemühst! Einen zusätzlichen Schutzraum bietet das kaum, das stimmt schon.
Doch Stirner schreibt zu dem anderen, dem bürgerlichen Eigentum, dass es auch kein Schutzraum dieser Art ist. Denn es ist lediglich von Gnaden des Staates oder von Gnaden der Gesellschaft. Es ist mehr ein Lehn als Eigentum für Stirner. Der Staat könnte es jederzeit zurückverlangen, die Gesellschaft könnte es jederzeit aberkennen. Sicher ist für Stirner nur jenes Eigentum, welches wir uns aktiv nehmen, denn das Eigentum, was uns gegeben wird, kann uns auch jederzeit wieder vorenthalten werden.

Ich glaube, aber andere würden mir mit Sicherheit widersprechen, dass diese Konzeption von Adam Smith beeinflusst ist, den Stirner übersetzt hat. Stirner treibt mit seinem Eigentum praktisch Smiths Idee auf die Spitze, dass Handeln nach dem eigenen Sinn, das beste Ergebnis für alle bringt. Es ist auch nicht gänzlich von der Hand zu weisen, denn zumindest theoretisch scheint mir Stirners Eigentum effizienter als das derzeitige Monopoleigentum des Kapitalismus. Warum? Weil Stirners Eigentum IMMER verwendet werden kann, es ist unmöglich, dass Häuser leer stehen und Menschen obdachlos sind, wenn es üblich ist, dass wir uns den Freiraum einfach nehmen.

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"Worum es im also geht ist Selbstkontrolle, Selbstbestimmung. Moralische Begriffe sind für ihn nicht per se verwerflich, solange sie sich in der Kontrolle des Einzelnen befinden."
wtf? selbstkontrolle?
Selbstkontrolle funktioniert doch nur mit einer vorangegangenen Entzweiung. Das stirnersche Eigentum ist übrigens nicht das "in Kontrolle des Einzelnen befinden". Alle moralischen Begriffe sind heilig, und sonst wären sie nicht moralisch. Und was Stirner über die Heiligkeit schreibt weisst du ja wahrscheinlich...

"dass das Individuum IMMER einen Teil seiner Freiheit für den sozialen Verkehr, wie er es nennt, aufgeben muss"
Ach du meine Güte, und schon bist du beim Individuum, und was das Individuum alles muss. Ich zumindest muss nicht einen Teil MEINER Freiheit aufgeben, sondern erweitere MEIN Eigentum im Verein mit anderen. Stirner destruiert ja die Freiheitsvorstellungen seiner Zeitgenossen, und zwar per Eigentum.
So ein bisschen durcheinander zu deiner postmoderne Sauce...

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"Selbstkontrolle funktioniert doch nur mit einer vorangegangenen Entzweiung." Ich lese das Selbst Stirners als dezentriert, dass heißt es ist mehr als nur entzweit, es ist über alles verteilt, was ich mir angeeignet habe. Selbstkonstolle wäre also gewissermaßen ein Zusammenhalten dieses verteilten Ichs.

Also, dass du einen Teil deiner Freiheit aufgeben musst, das findest du bei Stirner (und ich habe hier ja nur mal eher ungenügend versucht seine Position wiederzugeben): "Das Freisein kann Ich nicht wahrhaft wollen, weil Ich's nicht machen, nicht erschaffen kann: Ich kann es nur wünschen und darnach - trachten, denn es bleibt ein Ideal, ein Spuk. Die Fesseln der Wirklichkeit schneiden jeden Augenblick in mein Fleisch die schärfsten Striemen." (Seite 173 der Reclam Ausageb) Damit ist zwar noch nicht der soziale Aspekt der Aufgabe der Freiheit belegt, er ergibt sich aber meines Erachtens aus dem Kontext. Aber du hast Recht das Eigentum wird im Verein mit anderen erweitert, dem habe ich auch gar nicht widersprochen. Das steht damit nicht im Widerspruch. Stirner lässt die Freiheit zurück und nimmt die Eigenheit auf. Die Eigenheit bleibt im Verein im Gegensatz zu einer absoluten/metaphysischen Freiheit bewahrt. Aber den Begriff des Individuums würde ich hierfür nicht mehr verwenden.

"Das stirnersche Eigentum ist übrigens nicht das "in Kontrolle des Einzelnen befinden". Alle moralischen Begriffe sind heilig, und sonst wären sie nicht moralisch. Und was Stirner über die Heiligkeit schreibt weisst du ja wahrscheinlich..."
Diesen Teil deines Kommentars konnte ich leider nicht ganz folgen und würde gerne eine genauere Erläuterung haben.

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Zum nicht-Verstandenen: du schreibst oben: "Moralische Begriffe sind für ihn nicht per se verwerflich, solange sie sich in der Kontrolle des Einzelnen befinden." Nun, die Liebe ist allerdings eben nicht per se moralische Liebe. Die moralische Liebe wird aber nicht weniger moralisch, nur weil sie sich in der Kontrolle des Einzelnen befindet. Das lässt komplett ausser acht, dass es auch eine individuelle Moral geben kann, die Stirner aber ebenso ablehnt. Die Einzelnen können sich auch selber Moralgebote auferlegen, was sich aber dann ergibt ist etwas ähnliches wie das, was stirner als "fichtes absolutes Ich" kritisiert hat. Das heisst: ein Ideal-Ich, dem Ich (das reale, momente Ich) nachrenne.

Was ich mit "und schon bist du beim Individuum, und was das Individuum alles muss" kritisieren wollt, ist folgendes: "das Individuum", so wie du es oben benutzt, ist das "menschliche Individuum", der Mensch. Also etwas, dass nicht ich bin. Ob ich im Verein einen Teil meiner Freiheit aufgeben will, ist meine Sache. "das Individuum" muss das allerdings bestimmt nicht, ausser du willst die Vielfalt aller möglichen Situationen auf einen beschränkten Horizont reduzieren.
Stirner spricht auch davon, sich über die Grenzen der Individualität zu erheben. "Das Selbst" ist genau wieder das fichtesche Ich, dass dann als dezentrierte sauce (das meinte ich mit postmodern) in der Welt herumschwabelt. Ich bin aber nicht "das Selbst", sondern ich bewege mich (ist mein Hirn mit Postmodernität zugestopft) in dieser dezentrierten Sauce, die mir meine Empörung (im Jetzt) nicht gerade erleichtert. Ich rede aus Erfahrung... Das Ich bei Stirner ist ein Nichts. Will ich mich selbst erschaffen, autonom werden, so geht es nicht wenn ich "mein Selbst" dezentralisiere, ausser ich will mein leben lang ein Bad in meinem verwirrten Unbewussten führen.
Empörung sieht anders aus...