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Anmerkungen zum Artikel „Zu Räten wird geraten“

Anmerkung der Redaktion: Folgender Kommentar bezieht sich auf den Text "Zu Räten wird geraten: Eine andere Demokratie ist möglich!" von Peter Seyferth, der vor einiger Zeit auf dieser Webseite veröffentlicht wurde.

In seinem Artikel preist Peter Seyferth die Räte als „andere Demokratie“ an. Einige seine Thesen rufen Fragen hervor, die im Folgenden dargelegt werden.

„Die parlamentarische Demokratie kennen wir aus eigener Anschauung. Im Prinzip ist sie eine Wahlaristokratie: wie in einer aristokratischen Staatsform herrschen wenige über viele, die Entscheidungen werden oben in einem kleinen Kreis getroffen und nach unten per Befehl (heute sagt man lieber „Gesetz“) durchgesetzt – wenn es sein muß, auch mit Gewalt. Die Legitimation der Aristokratie liegt in der angeblichen Tugend des Adels: es herrschen die, die es am besten können. Das gilt in der parlamentarischen Demokratie nicht. Das ist auch gut so, denn dieses „Am-Besten-Können“ ist bekanntlich nur ein Mythos, den die Herrschenden zur Machtsicherung verbreiten. Im Parlamentarismus liegt die Legitimation beim Volk, das die Herrscher wählt. Nun ist schon das mit dem Volk recht problematisch, weil da nicht die ganze Bevölkerung dazugehört, d.h. es werden Menschen ausgegrenzt und übergangen. Die Wahlen verstärken dieses Problem: weil nicht über Sachthemen abgestimmt wird, sondern über Personen, die dann ohne weiteres Nachfragen über ebendiese Sachthemen entscheiden dürfen, wird auch der größte Teil des Volkes von der Herrschaft ausgeschlossen. Demokratie ist aber definitionsgemäß die Herrschaft des Volkes.“

Die Demokratie erhebt den Anspruch, sich gerade von der Aristokratie dadurch zu unterscheiden, dass es Herrschaft der Vielen über nicht so viele ist: die Beschlüsse der Mehrheit sind bindend für die Minderheit. Daran könnte man schon Kritik üben, aber den meisten Linken fällt eher auf, dass die Mehrheit gar keine richtige ist. Auch Peter Seyferth haut in diese Kerbe – auch wenn die gesamte Bevölkerung zum Staatsvolk gehört und mitstimmt würde, gäbe es immer noch eine unterlegene Minderheit, für die die Entscheidung der Mehrheit verbindlich wäre.

„Herrschaft des Volkes“ mag zwar die wörtliche Übersetzung des Wortes „Demokratie“ sein bzw. es gibt die verbreitete rhetorische Figur vom „Willen des Volkes“, aber herrschen kann das gesamte Volk nicht – allein schon deswegen, weil im „Volk“ ganz schön widersprüchliche, sich ausschließende Interessen auftreten.  Zum Beispiel die der „Arbeitgeber“ und der „Arbeitnehmer“ – die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie setzen für alle Interessen und Anlegen diesselbe Spielregeln: um umgesetzt zu werden, müssen politische Programme beim festgelegten Abstimmungsverfahren die Mehrheit gewinnen. Dabei wird schon davon ausgegangen, dass das Volk nicht einfach kollektiv dasselbe will und sich daher Mehrheit und Minderheit ergeben wird.

„Wie sieht es denn mit dem anderen Modell aus, der Rätedemokratie? Hier ist die Entscheidungsrichtung eine andere, nämlich von unten nach oben. In den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen werden politische Entscheidungen in überschaubaren Versammlungen der betroffenen Leuten getroffen, in den höchstens 20 Personen umfassenden Räten.“

Es ist nicht ganz klar, ob der Autor historische Räte in Deutschland oder Russland meint oder schon dabei ist, sein eigenes Modell zu beschreiben. Die historischen Räte hatten als „Basiseinheit“ oft große Betriebe, wo die Versammlungen sicherlich mehr als 20 Personen umfassten.

“Wenn mehr Leute betroffen sind, stellt sich freilich das Problem, daß fruchtbare Diskussionen unmöglich werden; ob an einer bestimmten Stelle am Fluß eine Fabrik gebaut werden soll, betrifft so viele Menschen, daß sie sich nicht mehr gemeinsam treffen können. In solchen Fällen entsenden die kleinen Räte auf der untersten Ebene Delegierte, die in sich in einem Rat auf höherer Ebene treffen und dort die Entscheidungen aushandeln. Dabei ist wichtig, daß die Delegierten an die Entscheidungen der unteren Ebenen gebunden sind (man nennt das „imperatives Mandat“); im Delegiertenrat dürfen sie nur solche Entscheidungen treffen, zu denen sie im untersten Rat beauftragt wurden – und ihre Entscheidungen müssen von den unteren Ebenen noch „ratifiziert“ werden, bevor sie Gültigkeit erlangen. Die Aufgabe von Delegiertenräten ist also nicht, zu regieren, sondern weisungsgebunden die Entscheidungsfindung zwischen den vielen Leuten zu ermöglichen, die nicht alle gleichzeitig am selben Ort sein können.“

Was passiert aber beim imperativen Mandat, wenn eine Entscheidung gegen andere steht? Ein „ja“ zu einem Vorschlag gegen ein „nein“? Denn die Delegierten sind an Entscheidung der Basis gebunden und die kann denen gar keinen Raum zu Verhandlungen lassen. In der parlamentarischen Demokratie würde man einfach abstimmen. Man könnte auch über das Thema diskutieren, aber wenn es unter den Delegierten stattfindet, ist die „Basis“ wiederum nicht dabei. Außerdem setzt Diskussion überhaupt voraus, dass alle Seiten sich von Argumenten überzeugen lassen wollen. Themen wie „sollen Arbeiter mehr Lohn bekommen“ oder „sollen Unternehmer mehr Steuern zahlen“ lassen sich wohl kaum durch Argumente lösen – da steht Interesse gegen Interesse ausschließend gegenüber. Niemand nimmt ernsthaft an, dass z.B. die Reden der FDP-Abgeordneten die LINKE-Fraktion überzeugen werden oder umgekehrt, die Anliegen der Wähler sind auch nicht gerade miteinander versöhnbar.

„Die gesellschaftlichen Bereiche, um die es geht, sind sehr vielfältig. Vor über 90 Jahren gab es Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte, doch möglich wären auch Räte von Schülern, Lehrern, Frauen, Büroangestellten, Migranten, Radfahrern, Mietern und allen, die von einem bestimmten politischen Problem betroffen sind.“

Einerseits arbeitet jedes Rätesystem mit der Formalisierung der Entscheidungsabläufe, aber während die parlamentarische Demokratie die Frage des Wahlrechtes sehr klar beantwortet (Staatsbürger ab einem bestimmten Alter), ist es in Seyferths Modell nicht ganz klar, wie man „Betroffenheit“ definiert und nach welchem Prinzip Räte nun gebildet werden. Der springende Punkt der historischen Räte war ja gerade, dass nur „Werktätige“ (Arbeiter, Bauern, Soldaten) Räte wählen durften – darauf reagierten andere Gruppen oft mit der Bildung ihrer eigenen Räte (Bürgerräte in Deutschland z.B.), die aber von Arbeiterräten nicht anerkannt wurde. Außerdem: Wenn z.B. jemand Frau und Büroangestellte ist, kann/muss diese Person in zwei Räten mitmachen? Das bedeutet einerseits mehr Zeitbelastung, kann aber anderseits eine Mehrheit durch die „Doppelung“ organisieren. Auch die russischen Bolschewiki ließen ihre Delegierten z.B. einmal in Soldaten- und einmal in Bauernräte wählen, mit der Begründung, die Soldaten wären doch im zivilen Leben Bauern.

„Das Konsensverfahren ist ein kommunikativer Akt, der Gemeinsamkeit schafft, ohne Einheitlichkeit zu erzwingen. Auf unser Beispiel angewandt, könnten sich die beiden Dörfer im Konsensverfahren darauf einigen, daß zwar eine Fabrik gebaut wird, diese aber mit einer Kläranlage ausgestattet wird, außerdem werden Arbeitsplätze und Gewinne der Fabrik zwischen den Dörfern geteilt – über die genauen Prozentsätze wird etwas länger gestritten, wie man sich leicht vorstellen kann, aber am Schluß steht jeder hinter dem Beschluß. Konsens bedeutet Einstimmigkeit und schützt daher jede noch so kleine Minderheit.“

Das Problem vieler linker Debatten über Demokratie, über Entscheidungsverfahren und Mitbestimmung ist, dass sehr detailliert darüber diskutiert wird, wer und wie entscheidet, aber nicht so sehr worüber. Wenn es in Seyferths Räte-Dorfidyll Geld, Lohnarbeit und Profit gibt, dann kann man noch so „basisnah“ entscheiden – die Zwänge und die Konkurrenz werden nach wie vor da sein. Konsensentscheidungen sind unter solchen Umständen völlig illusorisch.