Teilen |

Anarchismus und Organisation (Teil 1)

Ein Vortrag in zwei Teilen – Teil 1

Bei diesem Text handelt es sich um die überarbeitete Niederschrift eines Vortrages, den ich 2012 in verschiedenen anarchistischen Räumen gehalten habe. Er wurde auf eine Zuhörer_innenschaft zugeschnitten, die sich zwar als anarchistisch versteht, aber nicht unbedingt mit allen Theoriediskussion in der Geschichte der anarchistischen Bewegung vertraut ist. Aufgrund der Länge erscheint der Vortrag hier in zwei Teilen.

Historisch wie theoretisch  ist das Verhältnis von Anarchismus zu Organisationen komplex und teilweise offen widersprüchlich. Da wird einerseits von anarchistischer Seite zur „Organisierung“ aufgerufen und andererseits werden dann wieder Organisationen kritisiert, weil sie als solche gewisse Dynamiken an den Tag legen. Kein Wunder, denn meistens wissen wir selbst gar nicht so genau, was wir meinen, wenn wir zur „anarchistischen Selbstorganisation“ aufrufen. Wenn sich die Leute dann selbst organisieren, sind wir oft nicht zufrieden damit, was und wie sie es tun.

Eine Schwierigkeit liegt in der Diffusität des Begriffes. Mit „Organisation“ kann sowohl ein Zweckverband, gekennzeichnet durch eine gewisse Zweck-Mittel-Rationalität, gemeint sein, als auch eine Prozess der gegenseitigen Abstimmung, den ich in der Nähe von Koordination begreife. Aber selbst, wenn wir uns auf den ersten Begriff, Organisation als Zweckverband beschränken, so wie ich es in diesem Vortrag tun, sind damit noch lange nicht alle Fragen geklärt.

Eine weitere Schwierigkeit eine anarchistische Organisation zu bestimmen, neben der begrifflichen, hängt damit zusammen, dass im Anarchismus immer wieder der Anspruch auftaucht, – und auch ich vertrete ihn – dass die Organisationen die zukünftige, die gewünschte Gesellschaft vorwegnehmen sollen. Da wir aber selbst nicht so genau wissen, was wir denn für die Zukunft wollen, wissen wir auch nicht, wie unsere Organisationen aussehen sollen. Im Allgemeinen läuft der Anspruch deswegen darauf hinaus, dass es in den Organisationen soweit als möglich keine Herrschaft geben soll. Die Organisationen werden also negativ bestimmt. Soweit als möglich sollen Sexismus und Rassismus verhindert und die Beziehungen eben nicht durch Besitzverhältnisse, also bürgerlich, vermittelt werden.

Das alleine wäre schon schwierig genug. Es gibt jedoch mindestens vier Problemfelder, vier Dynamiken der Herrschaft, die spezifisch für Organisationen sind:

  • Verselbständigung von Organisationen: Darunter ist zu verstehen, dass die Organisation ein stählernes Gehäuse aus formalen und/oder informalen Regeln ausbilden, in dem sich die einzelnen Mitglieder_innen gefangen finden.
  • Ausbildung von Oligarchien: Darunter ist zu verstehen, dass durch die Eigendynamik von Organisationen eine Tendenz zur Herrschaft eines eingegrenzten Personenkreises entsteht.
  • Trennende Grenzen der Organisationen: Organisationen kennen im Normfall einen Innen und ein Außen. Oft bringen sie Vorteile für Personen, die Teil ihres Inneren sind und damit relative Nachteile für Personen, die außerhalb der Organisationen stehen.
  • Subjektivierender Charakter von Organisationen: Organisationen können durch ihren regulierenden Apparat subjektivierend wirken. Das heißt, sie können das Selbst grundlegend bestimmen, konstituieren.

Um eine kurz Vorschau zu geben: Zuerst werden die Problemfelder eins und zwei, Verselbständigung und Oligarchieausbildung erläutert werden, im Anschluss werden einige Strategien im Umgang mit diesen zwei Problemen Erwähnung finden. Danach wird das dritte Problemfeld, die trennenden Grenzen der Organisation, kurz aufgeworfen werden. Das vierte Problemfeld jedoch, der subjektivierende Charakter, wird hier nicht behandelt werden. Aus dem ganz einfachen Grund, dass ich mich selbst noch nicht sicher genug bei dieser Thematik fühle, um auch nur vorschlagsweise eine Position zu präsentieren.

Sobald ich die Problemfelder mit der erwähnten Ausnahme abgehandelt habe, werde ich mich der Frage, warum und wozu wir überhaupt Organisationen bilden, zuwenden. Damit soll noch einmal der Blickwinkel gewendet werden hin zur Funktionalität von Organisationen. Zu guter Letzt soll der Inhalt noch einmal durch einen Vorschlag, was das für unsere Praxis bedeuten könnte, zusammengefasst werden.

1. Problemfeld: Verselbständigung

Bei der Verselbständigung von Organisationen ist die Bürokratie wohl eine der bekanntesten und illustrativsten Formen. Bei der Bürokratie wird der formale Charakter einer Organisation unausweichlich und bildet, wie es der Soziologe Max Weber ausgedrückt hat, ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“. Schon fast klassisch ist das Bild des_der nett lächelnden Beamt_in und die Worte: „Da kann ich leider nichts für Sie tun“. Selbstverständlich könnte diese Person etwas tun, aber sie kann es auch wieder nicht. Zumindest nicht in ihrer Position in der Organisation, eventuell auch gegen deren Widerstand.

Die Bürokratie ist aber nicht die einzige Form der Verselbständigung von Organisationen. Eine Organisation kann sich auch abseits der sich alles einverlebenden Formalisierung, der Bürokratie, verselbständigen. Auch informelle Dynamiken können uns über die Köpfe wachsen. So kann uns Vetternwirtschaft und Korruption als handfestes Problem gegenüber treten. Dieser Schritt ist generell dann überschritten, wenn Organisationen beginnen eigene Scheininteressen auszubilden. Das heißt praktisch gesprochen, sobald Menschen beginnen im Namen einer Organisation eindeutig und auch langfristig gegen ihre eigenen Interessen zu handeln, hat sich diese offensichtlich verselbständigt. Die Einzelnen sind ihr dann unterworfen. Wir können in diesem Fall von einer unpersönlichen Herrschaft durch die Organisation sprechen.

Max Stirner, ein Philosoph, der in den junghegelianischen Kreisen mit Marx und Engels verkehrte und von diesen zum Anarchisten abgestempelt wurde, drückt dies in der Dichotomie von Gesellschaft und Verein aus. Wobei Gesellschaft bei ihm generell einen verselbständigten Zusammenhang von Menschen, also auch einen verselbständigten Zweckverband, eine verselbständigte Organisation bezeichnet. Der Verein hingegen ist die Organisation, über die wir als Einzelne die Kontrolle haben. Er schreibt:

„[…]der Verein ist für Dich und durch Dich da, die Gesellschaft nimmt umgekehrt Dich für sich in Anspruch und ist auch ohne Dich; kurz die Gesellschaft ist heilig, der Verein dein eigen: die Gesellschaft verbraucht Dich, den Verein verbrauchst Du.“ (Stirner 1981: 351)

Um festzuhalten, eine verselbstständigte Organisation bezeichnet er als Gesellschaft, und als solche verbraucht sie Dich. Es kommt gewissermaßen zu einem Interessenkonflikt mit einer geronnen Sozialität, die eigentlich gar keine lebendigen Interessen hat.

Nun ist aber der Übergang zwischen diesen zwei Formen, Verein und Gesellschaft, fließend, dessen ist sich auch Stirner bewusst. Das heißt, wir können bei der Gründung einer Organisation die besten Ziele haben, beziehungsweise sie nur für unsere Interessen gründen und dennoch beginnt sie uns zu verbrauchen. Vielleicht ist es einigen von euch ja schon passiert, dass ihr bei einer Politgruppe wart, ihr hattet Spaß und habt die Sachen weiter gebracht. Aber eines Tages habt ihr gemerkt, wie ihr Dinge getan habt, die eigentlich gar nicht notwendig waren, die ihr und die anderen ohne die Organisation gar nicht für notwendig gehalten hättet und euch eigentlich nur verbraucht haben. An diesem Punkt hat sich die Organisation verselbständigt, an diesem Punkt hat sich die unpersonale Herrschaft der Organisation gezeigt.

2. Problemfeld: Ausbildung von Oligarchien

Das zweite Problem ist die Ausbildung von Oligarchien. Organisationen neigen zumindest ab einer gewissen Größe (und einer gewissen Bedeutung) dazu oligarchische Strukturen, das heißt Eliten, auszubilden. Ein klassisch gewordenes Buch zu dieser Problematik ist „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ von Robert Michels (1911). Da Michels' Werk und sein Leben untrennbar verbunden sind, soll ein kurzer Abriss seiner Biographie folgen.

Robert Michels wurde 1876 in Köln geboren, 1901 trat er der italienischen sozialdemokratischen Partei bei, wenige Jahre später der deutschen. Er war Delegierter bei mehreren sozialdemokratischen Parteitagen. 1907 wandte er sich von der Sozialdemokratie ab. Michels war zu dieser Zeit nicht nur Sozialist, sondern auch Soziologe. Er stand im engen Kontakt mit Max Weber. Ihm widmete er auch sein Buch „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“. Dieses Buch speist sich aus seinen Erfahrungen mit der deutschen Sozialdemokratie. Seiner Ansicht nach war die Sozialdemokratie mit den besten Absichten gestartet und hatte am Ende doch die selben oligarchischen Strukturen ausgebildet. Nach seiner Abwendung von der Sozialdemokratie wandte Michels sich kurzzeitig dem Syndikalismus zu und war auch pazifistisch tätig. 1928 jedoch hatte ein tiefgehender Wandel stattgefunden, er trat der faschistischen Partei Italiens bei und wurde auch öffentlich ein Propagandist des Faschismus. Wobei anzumerken ist, dass er ein Vertreter des italienischen Faschismus war und vor einem Bündnis mit dem völkisch-deutschen warnte. Damit soll seine reaktionär autoritäre Politik nicht relativiert, sondern spezifiziert werden.

Das wichtigste Werk Michels' blieb seine Soziologie des Parteiwesens. Dieses Buch war, wie bereits erwähnt, aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Arbeiter_innenbewegung, bzw. der deutschen Sozialdemokratie entstanden. Es zeigt eine allgemeine Desillusionierung gegenüber Massenorganisationen, eben weil diese stark zu hierarchischen Strukturen tendieren. In diesem Kontext stellte Michels das „eherne Gesetz der Oligarchie“ auf. Eines der wenigen Gesetze der Soziologie, das sich überhaupt diesen Namen geben kann ohne lächerlich zu erscheinen.

Kurz gesagt schreibt das eherne Gesetz der Oligarchie fest, dass große Organisationen stets Oligarchien, also herrschende Gruppen, ausbilden.Wie lässt sich dieses „eherne Gesetz“ begründen? Ab einer gewissen Größe entwickeln Organisationen einen starken Koordinationsbedarf. Wird dieser nicht erfüllt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Desintegration der Organisation groß. Sie ist dann nicht mehr fähig einheitlich zu agieren oder zerfällt ganz.

Die klassische Erfüllung des Koordinationsbedarf stellt eine starke, zentralistische Hierarchie dar. Nun können die Lösungen unterschiedlich ausfallen und es muss nicht gleich ein zentraler Kader entstehen, der alles entscheidet. Ab einer gewissen Größe wird es jedoch nahezu unmöglich gänzlich ohne Hierarchien, mögen diese auch informell sein, auszukommen und dennoch als eine Organisation zu agieren. Ein Zweckverband kann sicherlich eine widersprüchlichen Zwecke in sich ertragen, wenn sich diese aber auch komplett entfalten, muss er platzen.

Da es weiters bei komplexen Zusammenhängen schlichtweg nicht möglich ist, dass alle Personen sich mit allem auskennen, wird ein gewisses Expert_innentum innerhalb der Organisation entstehen. Aus rein praktischen Gründen können nicht alle Aufgaben ständig neu zu gewiesen werden bei einer großen Organisation, die ohnehin schon behäbiger ist. Diese Expert_innen haben dann jedoch mehr Machtmittel in ihrer Hand. Auf kurz oder lang wird dies die Dynamik der Organisation entscheidend ändern. Dass sich wirklich eine eigene, stabile Klasse von Personen, die lenken, bildet, wie Michels dies beschreibt, ist vielleicht nicht immer so, aber die Tendenz zur Hierarchiebildung ist vorhanden und wird sich nicht gänzlich ausschalten lassen.

Strategien

Es gibt jedoch einige Strategien, die sowohl gegen die Verselbständigung von Organisationen als auch die Oligarchiebildung wirken:

  • ein radikaler Föderalismus, wie er in der anarchistischen Bewegung spätestens seit der ersten Internationalen und damit eigentlich von Anfang tief verwurzelt ist.
  • Die vier Eigenschaften einer anarchistischen Organisation nach Colin Ward (2010): voluntary (freiwillig), functional (funktional), temporary (temporär), und small (klein)
  • Der Organisationsegoismus, wie er sich bei Stirner findet in seiner Unterscheidung zwischen Verein und Gesellschaft.

Föderalismus

Der radikale Föderalismus ist gewissermaßen eines der historischen Kennzeichen des Anarchismus. Ich habe bereits auf die erste Internationale, die Internationale Arbeiter Assoziation, hingewiesen, in der die anarchistischen Sektionen, aber nicht nur diese, auf einen Föderalismus gedrängt haben und zwar im Gegensatz zur marxistischen Strömung. Spulen wir 150 Jahre nach vorne und schauen wir uns die aktuellen Statuten von FAU und FAS an, zwei anarchosyndikalistischen Zusammenschlüssen, die jeweils in Deutschland und Österreich aktiv sind und noch einen relativ klassischen Föderalismus vertreten. Obwohl die beiden Organisationen auch im anarchistischen Spektrum als Gewerkschaften wahrgenommen werden, ist dies eigentlich eine Ungenauigkeit, denn wie es in den Statuen der FAU heißt: „Die Freie Arbeiterinnen und Arbeiter Union (FAU) ist eine klassenkämpferische Gewerkschaftsföderation.“ (FAU 2008: 1; Hervorhebung von mir) Die FAS heißt ja schon in ihrem Namen „Föderation der ArbeiterInnen Syndikate“. Prinzipiell, so wollen es die Statuten, sind die Syndikate autonom und gewissermaßen in Metaorganisationen, den Föderationen, miteinander verbunden. Die FAS redet selbst auf diese Weise die Bedeutung der Föderation klein:

„Die Föderation ist der Kitt, der die Syndikate bzw. Ortsgruppen/Lokalföderationen zusammenhält.“ (FAS 2008: 4)

Inwiefern ist diese Form der Organisation, also ein Verband aus Verbänden, nun ein Mittel gegen Oligarchiebildung und Verselbstständigung? Einfach lässt sich dies an den Finanzen zeigen. In den Statuten der FAS heißt es:

„Prinzipiell verfügen alle Syndikate über eigene Kassen. Damit wird der Zentralisierung der Bewegung entgegengewirkt.“ (FAS 2008: 9)

Solche Maßnahmen machen eine Verselbständigung eindeutig schwieriger, die Dynamik einer Organisation wird eingeschränkt. Es wird versucht die Logik einer kleineren, stärker an Personen gebundenen Organisation beizubehalten. Auch Oligarchien haben es schwieriger sich zu etablieren, da sie schlichtweg keinen Zugriff auf alle Machtmittel haben. Dadurch, dass die Kassen dezentral verwaltet werden, haben alle Syndikate gewissermaßen ein kleines Pfand in der Hand. Sollte sich die Föderation als Organisation verselbstständigen oder sollte sich eine Oligarchie bilden, dann sind die Syndikate nicht machtlos.

Bei allen föderalistischen Strukturen stellt sich jedoch die Frage, inwiefern die offizielle, die formelle Struktur mit der faktischen, realen Struktur zusammenhängt. Es ist zu bedenken, dass es für die Syndikate einfacher sein kann, sich jeweils an der Entscheidung einiger Vertrauenspersonen zu orientieren, anstelle des wirklich autonomen Entwickelns eines eigenen Ansatzes. Würden sich die Syndikate wirklich gänzlich autonom verhalten ohne sich aneinander zu orientieren, würde sich die Föderation wohl schnell auflösen oder wäre nicht mehr als Einheit schlagkräftig Auch hier müssen die Zwecke der Teile des Verbandes in Schach gehalten werden. Ein Föderalismus führt also zum Seiltanz zwischen Oligarchien und Auflösung. Wobei im politischen Eifer wohl öfter die Ausbildung von Oligarchien gewählt wird. Es sei nur an die CNT im spanischen Bürgerkrieg erinnert, die schlussendlich Minister_innen stellte und Polizeifunktionen übernommen hat!

Dazu will ich noch sagen, dass dieses Problem momentan wohl eine eher theoretisches ist, da weder FAU noch FAS wirkliche, breite Massenorganisationen sind.

Ward

Die vier Kriterien die Ward für anarchistische Organisationen vorschlägt, freiwillig, funktional, temporär, klein, sind gewissermaßen eine Verschärfung des klassisch anarchistischen Föderalismus, wie er sich bei FAU und FAS findet. Das Kriterium der Freiwilligkeit gilt selbstredend allgemein für den Anarchismus. Auch verstehen sich vermutlich die meisten anarchistischen Organisationen als funktional in dem Sinne, dass die Form der Organisation genau auf ein Ziel ausgerichtet ist, ob das nun heißt einen autonomen Freiraum zu schaffen, oder den Klassenkonflikt voranzutreiben. Eine Ausnahme stellen eventuell die anarchistischen Föderationen da, die ein sehr allgemeines Selbstverständnis haben, und die Bezugsgruppen, wenn wir diese als Organisationen verstehen wollen. Aber ein gewisses Maß an Funktionalität als Zielgerichtetheit auf einen oder mehrere Zwecke wurde ja eingangs als Kennzeichen aller Organisationen, auch herrschaftlicher, festgesetzt

Wichtiger scheinen die zwei letzteren Eigenschaften: temporär und klein. Da sowohl eine Verselbständigung als auch die Ausbildung von Oligarchien Zeit brauchen, leuchtet das Kriterium der zeitlichen Beschränktheit für Organisationen erst einmal ein. Allerdings stellt sich die Frage, wie praktikabel es wirklich ist. Bei gewisser Infrastruktur, wie zum Beispiel einer anarchistischen Bibliothek würden wir vermutlich vorziehen, dass sie immer da wäre und nicht nur für die nächsten zwei Jahre. Bei Nahrungsmittelversorgung, Krankenhäusern oder, um bei aktuellen Problemen zu bleiben, der Antifa wäre es meines Erachtens sogar fahrlässig sie zeitlich zu beschränken. Was wenn sich nicht rechtzeitig eine neue Organisation gründet? Womöglich wäre es sinnvoller anstatt einer zeitlichen Beschränkung sich einen zeitlichen Rahmen zu setzen, nach dessen Überschreiten die Organisation von Grund auf evaluiert und nach formellen wie informellen Hierarchien durchleuchtet werden soll. Am besten mit Unterstützung von Personen außerhalb der Organisation.

Wards Vorschlag zur Größe scheint auf den ersten Blick ähnlich gelagert zu sein. Ward geht selbst auf die Schwierigkeiten der Umsetzung dieser Forderung ein. Er schlägt vor einfach größere Aufgaben in kleinere zu spalten, so dass diese von kleineren Organisationen übernommen werden können. Was mit ein Produktivitätsverlust einhergehen könnte, Stichwort hierbei sind die Economies of Scale. Schließlich lässt er auch zu, dass sich die kleinen Organisationen miteinander verknüpfen, also förderieren (vgl. Ward 2010). Ward legt die Betonung zwar eindeutig stärker auf die kleinen Einheiten, aber zumindest meiner Lesart nach würde die FAU, auch wenn sie hundert mal so groß wäre, Wards Kriterium der Größe zumindest theoretisch entsprechen. Es stellt sich deutlich die Frage, ob eine Föderation aus kleinen Organisationen nicht eine große Organisation ist. Zumindest, wenn die kleinen Organisationen beginnen sich aneinander zu orientieren und versuchen einheitlich zu agieren, scheint dies der Fall zu sein. Es erscheint unglaubwürdig, dass der Koordinationsbedarf gänzlich verschwindet, nur in dem ein Teil der Koordination in kleinere Gruppen verlagert wird. Zwar gibt es die Möglichkeit auf Koordination im engeren Sinne zu verzichten, ein Beispiel hierfür wäre das CrimethInc.-Kollektiv, dann scheint es jedoch unpassend von einer Organisation zu sprechen, weil es sich nicht mehr um eine kollektive Akteurin handelt, also eben nicht mehr einheitlich agiert wird und auch nur die Imaginationen eines konkreten gemeinsamen Zwecks fehlt. Bei CrimethInc. handelt es sich zwar um einen wardschen Föderalismus aber um keine Organisation mehr.

Organisationsegoismus

Kommen wir zu dritten Technik. Der Organisationsegoismus Stirners ist ein sehr anspruchsvolles Instrument. Er fällt gewissermaßen aus der Reihe der zwei vorhergehenden Methoden, die beide von der Organisation aus auf das Problem blicken, um zu sehen was an den Organisationen verändert werden könnte. Beim Egoismus Stirners blicken wir radikal vom Ich aus. Für Stirner gilt es sich nicht in seinem Sein durch eine Organisation binden zu lassen (vgl. seine Erörterung der Partei: Stirner 1981: 262), das Ich soll sich immer eine Autonomie von der Organisation bewahren. Eine stets flexible und sich wandelnde Autonomie, die somit unabhängig dynamisch von der Organisation sein soll. Von dieser Autonomie aus soll das Ich dann die Organisation als ein Instrument verwenden. Nicht das Ich soll von der Organisation ausgenützt werden, sondern das Ich soll die Organisation ausnützen (vgl. Stirner 1981: 351). Wegen dieser Betonung des Ausnützens spreche ich vom Organisationsegoismus, genauer dem Egoismus gegenüber Organisationen. Sobald die Organisation verlangt gegen meine Interessen, gegen meine Person zu handeln, soll d. Einzelne sich von der Organisation lossagen. Es soll niemals mehr als ein instrumentales Verhältnis zur Organisation bestehen. Sowohl Oligarchien als auch Verselbständigung würden dieses Instrumentalverhältnis stören.

Warum ist dies eine so anspruchsvolle Technik? Bei diesem auf Organisationen bezogenen Egoismus handelt es sich um eine „Technologie des Selbst“ (zu diesem Konzept bezogen auf Stirner vergleiche Mümken 2003: 242-245), eine Veränderung des eigenen Seins. Eine derartige Autonomie, so eingeschränkt sie auch sein mag, muss erst erarbeitet werden. Die formalen Strukturen einer Organisation anders festzuschreiben ist wesentlich einfacher, als sich selbst grundlegend zu ändern. Gleichzeitig handelt es sich hier wohl um das effektivste Instrument. Ein starkes Ich ist die beste Waffe gegen den Spuk der Organisationen, eben weil es zwar nicht unbedingt außerhalb, aber über diesen steht und so gegen die innersten Tendenzen der Organisation agieren kann.

Eine kleine Warnung soll noch zum Organisationsegoismus gewissermaßen als Beipackzettel gereicht werden. Alles immer nach dem eigenen Kopf haben zu wollen und zu verlangen, dass sich die Organisation stets und soweit es nur geht nach einem selbst richtet; das ist nicht unbedingt ein Weg um sich Freund_innen zu machen. Gerade bei einer derart selbstzentrierten Technik ist es wichtig, zu kommunizieren. Und gegen die anderen in einer Organisation lässt sich das Konzept ohnehin nicht oder nur sehr unbefriedigend durchsetzen. Vielmehr eskaliert die Situation dann in einen Konflikt, der uns alle von unseren Interessen fernhält. In Rudolf Rockers „Anarchismus und Organisation“ (0. A.) lässt sich dieser ausführlich über die Stirnerinaner_innen seiner Zeit aus und wie diese eigentlich nur stören in den Organisationen. Das ist nicht was ich will, auch nicht was Stirner wollte.

3. Problemfeld: Trennende Grenzen

Das Problem, dass Organisationen in ein Innen und ein Außen trennen, ist als solches wohl unlösbar, solange wir Organisationen bestehen lassen. Die Trennung in Innen und Außen ist eigentlich das falsche Kriterium, um eine Organisation als Organisation zu beurteilen, denn jede Organisation weist es mehr oder weniger ausgeprägt auf, ansonsten könnten wir sie gar nicht als solche benennen. Wichtig sind vielmehr einerseits die Folgen der Zugehörigkeit, sowie die Durchlässigkeit der Grenze zwischen Innen und Außen.

Besonders problematisch ist es, wenn die Grenzen von, wer in der Organisation eine Stimme hat und mitwirkt und wer von den Entscheidungen und Handlungen konkret betroffen ist, auseinanderfallen. Wenn also zum Beispiel eine Gruppe von Personen einen Betriebskampf für bessere Arbeitsbedingungen führt, die gar nicht in dem betreffenden Betrieb arbeitet. Wenn sich eine solches Auseinanderfallen verfestigt und es gar nicht mehr möglich ist, dass Personen, die gleichsam organisiert werden, gleichberechtigt mitwirken können, handelt es sich um Herrschaft. Um in der stirnerschen Terminologie zu bleiben, dann ist es nicht mehr möglich, dass Ich mich Meiner Sache annehme. Wenn wir den anarchistischen Anspruch ernst nehmen, muss zumindest die Möglichkeit der Mitwirkung gewährleistet sein. Der Zusammenhang von Durchlässigkeit und Auswirkungen ist das Kernproblem.

Mehr in Teil 2...

Literaturverzeichnis:

FAS (2008): Prinzipienerklärung. Statuten. Elektronisches Dokument. URL: http://syndikate.at/sites/default/files/FAS_Statuten_Prinzipien.pdf. Abgerufen am 17. 8. 2012.

FAU (2008): Statuten der FAU. Elektronisches Dokument. URL: http://www.fau.org/ueber_uns/statuten-25-08-2008.pdf. Abgerufen am 17. 8. 2012.

Freeman, Jo (o. A.): Die Tyrannei der unstrukturierten Gruppen. Elektronisches Dokument. URL: http://www.anarchismus.at/texte-anarchismus/organisier-dich-anarchistisch/6040-joreen-die-tyrannei-der-unstrukturierten-gruppen. Abgerufen am 18. 8. 2012.

Rocker, Rudolf (o. A.): Anarchismus und Organisation. Moers.

Michels, Robert (1911): Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. Leipzig.

Mümken, Jürgen (2003): Freiheit, Individualität und Subjektivität. Staat und Subjekt in der Postmoderne aus anarchistischer Perspektive. Frankfurt a. M.

Stirner, Max (1981): Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart.

Ward, Colin (2010): Anarchism as a Theory of Organization. Elektronisches Dokument. URL: http://theanarchistlibrary.org/library/colin-ward-anarchism-as-a-theory-of-organization. Abgerufen am 6. 8. 2012.


Kommentare

Vote up!
Vote down!

wann gibbet teil zwei?

Vote up!
Vote down!

vermutlich noch diese Woche

Update: jetzt hier https://systempunkte.org/article/anarchismus-und-organisation-teil-2